AHV-Newsletter 2012-05: Koordinierung der sozialen Sicherheit im EWR (VO883/2004) - Änderungen ab dem 01.06.2012

Soziale Sicherheit und grenzüberschreitende Mobilität: Was ändert sich in Liechtenstein

Die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit wurde in der EU mit Wirkung ab
1. Mai 2010 neu geregelt. Ab diesem Tag fanden die Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Anwendung. Dadurch wurden die bisher für die Koordinierung der Sozialversicherungssysteme massgebenden Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und die Durchführungsverordnung Nr. 574/72 ersetzt.

25 Monate später kommt es nun auch im EWR und somit auch für Liechtenstein gegenüber den anderen 29 EWR Staaten (27 EU-Staaten sowie Island und Norwegen, nicht jedoch gegenüber der Schweiz) zur gleichen Rechtsänderung. Allerdings findet ein weitgehend fliessender Übergang vom alten zum neuen Recht statt, da einerseits Übergangsvorschriften für alte Fälle gelten und andererseits alle wichtigen Grundsätze des bisherigen Koordinierungsrechts aus der „alten“ der Verordnung 1408/71 in die „neue“ Verordnung 883/2004 übernommen wurden. Nachfolgend sollen die wichtigsten Änderungen im Allgemeinen und insbesondere für die einzelnen Sozialversicherungsbereiche, die von der Liechtensteinischen AHV-IV-FAK durchgeführt werden, punktuell aber nicht abschliessend aufgelistet werden.

I. Allgemeines

Die alten Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und 574/72 galten für Arbeitnehmer, Selbständige, Studierende, Rentner, Beamte, Flüchtlinge, Staatenlose und in einem grenzüberschreitenden Fall auch für deren Familienangehörige. Die neuen Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und 987/2009 gelten für alle sozialversicherten Personen, auch Nichterwerbstätige, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaates, Flüchtlinge oder staatenlos sind.

II. Exportprinzip

Geldleistungen müssen unabhängig davon gezahlt werden, wo der Leistungsempfänger wohnt. Die Anwendung beschränkt sich nicht mehr auf den EWR-Raum.

III. Äquivalenzprinzip

Gleichstellung von Leistungen, Einkünften, Sachverhalten oder Ereignissen, unabhängig davon in welchem Mitgliedsstaat sie erfolgt sind.

IV. Informationspflichten

Die nationalen Sozialversicherungseinrichtungen müssen Bürger im Hinblick auf ihre Rechte unter dem neuen Koordinierungssystem informieren und sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützen. Dazu wurde von der EU auch ein Leitfaden betreffend die EU-Bestimmungen über die soziale Sicherheit in allen Amtssprachen publiziert.
http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=850&langId=de&pubId=486&type=2&furtherPubs=yes

Direktlink für die deutsche Version:
http://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=4783&langId=de

Jeder angesprochene Träger muss dem Antragsteller die getroffene Entscheidung sowie die anzuwendenden Rechtsvorschriften mitteilen. Bei der Unterstellung erfolgt dies beispielsweise mit dem Formular A1, welches das bisher verwendete Formular E101 ersetzt. Allerdings kann auch noch das „alte“ Formular E 101, wie alle anderen E-Formulare  mit dem Vermerk VO 883/04, während einer Übergangszeit bis zur Einführung des auf Mai 2014 vorgesehenen elektronischen Datenaustausches zwischen den Institutionen der verschieden Mitgliedstaaten weiterverwendet werden.

V. Anwendbares Recht

Die Koordinierungsbestimmungen über das anwendbare Recht regeln, welche einzelstaatlichen Sozialversicherungsgesetze für eine Person gelten, wenn ihre Situation mehr als einen Mitgliedstaat betrifft. Dies ist sowohl für die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge als auch für die derzeitigen und zukünftigen Leistungsansprüche in den einzelnen Sozialversicherungszweigen (z. B. Anspruch auf Familienzulagen, Altersrenten etc.) von Bedeutung.

Die neue Verordnung bringt Vereinfachungen, aber keine grundlegende Änderung gegenüber der Verordnung 1408/71. Es bleibt bei den Grundregeln Beschäftigungsstaat als massgeblicher Anknüpfungspunkt und Zuständigkeit eines einzigen Mitgliedstaates.

Beim Entscheid über das anwendbare Recht sind auch die im praktischen Leitfaden der EU vereinbarte einheitliche Rechtsanwendung  zu berücksichtigen.
http://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=4944&langId=de

  • Beschäftigungsstaat als massgeblicher Anknüpfungspunkt

Falls eine Person nur in einem Mitgliedstaat arbeitet, gelten für sie die Rechtsvorschriften dieses Staates. Nicht entscheidend ist bei diesem Sachverhalt, wo die Person wohnt.

Eine Ausnahme vom „Beschäftigungsprinzip“ gilt bei der Entsendung, die neu für maximal 24 Monate möglich ist. Zur Erledigung eines auf diese oder eine kürzere Zeit befristeten Projektes kann ein Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat gesandt werden, ohne dass dadurch die Zuständigkeit des Mitgliedstaates wechselt. Allerdings darf dabei nicht lediglich eine andere Person ersetzt werden. Auch selbständig Erwerbende können sich entsenden, sie müssen jedoch im empfangenden Mitgliedstaat in der gleichen Branche tätig bleiben. Es wird empfohlen, die Voraussetzung für eine Entsendung von der zuständigen Institution im bisher und beim Vorliegen einer Entsendung auch weiterhin zuständigen Staat zu prüfen und durch die Ausstellung eines Formulars A 1 bestätigen zu lassen. In Liechtenstein ist die AHV-IV-FAK dafür zuständig.

  • Zuständigkeit eines einzigen Mitgliedstaates

Bei Personen, die in mehreren Mitgliedstaaten unselbständig erwerbstätig sind, wird neu unterschieden, ob sie bei einem oder bei mehreren Arbeitgebern angestellt sind.

  • Wenn sie nur bei einem Arbeitgeber angestellt sind, so werden sie dem Sozialversicherungssystem jenes Mitgliedstaates unterstellt, in welchem sie sich gewöhnlich aufhalten, wenn sie dort wesentlich bzw. während mindestens 25% ihrer Arbeitszeit tätig sind. Wenn sie jedoch dort weniger arbeiten, ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat.
  • Bei zwei oder mehr Arbeitgebern ist für die Unterstellung im Wohnsitzstaat einzig entscheidend, ob dort eine Tätigkeit ausgeübt wird. Auch schon ein geringfügiges Pensum für den Arbeitgeber im Wohnsitzstaat reicht für dessen Zuständigkeit. Ebenfalls zu einer Unterstellung im Wohnsitzstaat kommt es, wenn die Arbeitgeber in verschiedenen Mitgliedstaaten ihren Sitz haben.
  • Bei gleichzeitiger Ausübung einer unselbständigen und selbständigen Erwerbstätigkeit in verschiedenen Mitgliedstaaten gilt unverändert, dass die Unterstellung in dem Staat erfolgt, in welchem die Arbeitnehmertätigkeit ausgeübt wird. Neu ist einzig, dass für diese Regel keine Ausnahmen mehr vorgesehen sind.
  • Personen, die eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst ausüben, unterliegen immer den Rechtsvorschriften ihrer Verwaltung, selbst wenn sie noch parallel dazu eine selbständige oder unselbständige Tätigkeit ausüben.

Personen, die gleichzeitig einer selbständigen Erwerbstätigkeit in mehreren Staaten nachgehen, unterliegen den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Tätigkeit befindet. Merkmale dafür sind u. a. der Ort, an dem sich die feste und ständige Niederlassung befindet von der aus die betreffende Person ihre Tätigkeiten ausübt, die gewöhnliche Art und Dauer der Tätigkeit, die Anzahl der erbrachten Dienstleistungen sowie der sich aus den gesamten Umständen ergebende Wille der betreffenden Person.

Auch bei in mehreren Mitgliedstaaten erwerbstätigen Personen wird die Unterstellung von den zuständigen Institutionen geprüft und ebenfalls durch ein Formular A 1 dokumentiert. Das Dokument A 1 wird durch die AHV-IV-FAK ausgestellt, wenn die Person liechtensteinischem Recht unterstellt ist. Im Interesse bestimmter Personen oder Personengruppen können zwei oder mehr Mitgliedstaaten aber auch einvernehmlich Ausnahmen von den dargelegten allgemeinen Regeln vorsehen.

  • Übergangsbestimmungen

Gelten für eine Person infolge der Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 andere Rechtsvorschriften wie nach der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, so bleibt die nach der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 festgelegte Unterstellung für längstens 10 Jahre bestehen, solange sich der Sachverhalt nicht ändert und kein Antrag auf Änderung der Unterstellung gestellt wird. Damit der Antrag rückwirkend ab 01.06.2012 gilt, muss er innert drei Monaten gestellt werden.

VI. Leistungen bei Invalidität, Alters- und Hinterbliebenenrenten

In der ersten Säule gibt es keine grundlegenden Änderungen, es bleibt bei der koordinierten Rentenberechnung, d.h. es werden Teilrenten entsprechend der erworbenen Versicherungszeiten ausgerichtet. Dies gilt neu auch für Kinderrenten.

VII. Familienleistungen

Familienleistungen werden in allen Mitgliedstaaten ausgerichtet, doch bestehen erhebliche Unterschiede im Hinblick auf ihre Höhe und Ausgestaltung. In einem Teil der Mitgliedstaaten werden sie nur an Erwerbstätige ausgerichtet. In anderen Mitgliedstaaten reicht bereits der Wohnsitz aus. Auch Rentner haben Anspruch auf Familienleistungen, die sie grundsätzlich von dem Staat erhalten, der ihre Rente zahlt.

Bei den Familienleistungen kann die Zuständigkeit von mehreren Mitgliedstaaten durch die verschiedenen Familienmitglieder begründet werden. Neu bestehen bei der Zuständigkeit von mehreren Mitgliedstaaten klare Prioritätsregeln in der Reihenfolge Beschäftigung, Rente, Wohnort. Bei einem gleichzeitigen Anspruch in verschiedenen Mitgliedstaaten aufgrund einer Beschäftigung geht der Anspruch in dem Staat, wo der Wohnsitz der Familie ist, vor.

Ist bei einer Familie der Vater Grenzgänger, so besteht in der Regel sowohl im Wohnsitz- als auch im Beschäftigungsstaat ein Anspruch. Arbeitet bei dieser Familie die Mutter nicht, so hat der Beschäftigungsstaat die Familienzulagen vorrangig zu zahlen. Der Wohnsitzstaat muss, sofern er einen Anspruch bei Wohnsitz kennt und seine Leistungen als nachrangiger Träger höher sind, den Unterschiedsbetrag bezahlen. Arbeitet die Mutter hingegen im Wohnsitzstaat, so hat dieser die Familienzulagen vorrangig zu leisten und der Beschäftigungsstaat des Grenzgängers einen allfälligen Unterschiedsbetrag.

Der Newsletter vermittelt nur einen allgemeinen Überblick. Für die Beurteilung der Einzelfälle sind die gesetzlichen Bestimmungen massgebend.